italienische Philosophie

italienische Philosophie
italienische Philosophie,
 
Sammelbegriff für die philosophischen Theorien und Systeme, die in Italien seit der Spätantike in lateinischer oder italienischer Sprache oder von italienischen Autoren (z. B. G. Bruno) auch außerhalb Italiens entwickelt worden sind. Somit umfasst der Begriff italienische Philosophie im weiteren Sinne auch Autoren der Spätantike (Boethius, Cassiodor), des frühen Mittelalters (Anselm von Canterbury, Petrus Lombardus) und der Hochscholastik (Bonaventura, Thomas von Aquino). Im engeren Sinne versteht man darunter die philosophischen Richtungen, die seit der Bewusstwerdung einer eigenständigen italienischen Kultur und Sprache um 1300 (Dante Alighieri) entstanden sind. Im 14. Jahrhundert erfolgte durch die Renaissancephilosophie die Loslösung von der Scholastik. Dieser wurde - im Zusammenhang mit einer einseitigen Orientierung an der Lehre des Aristoteles - vorgeworfen, ihr Wahrheitsbegriff im Sinne einer Adäquation von Sache und Verstand berücksichtige nicht den menschlichen Sprachgebrauch. Wort und Sache seien derart miteinander verbunden, dass nur im faktisch geäußerten Wort eine Sache oder eine Situation sich erschließe. Wenn auch diese Theorie erst im 15. Jahrhundert durch L. Valla und später noch durch M. Nizolio eine umfassende Begründung erfuhr, verlagerte sich bereits bei Autoren des 14. Jahrhunderts das Interesse von einer der Scholastik zugeschriebenen Wesensbestimmung des Seienden zur Behauptung des »Vorrangs des Wortes« (E. Grassi), das als Indiz des menschlichen Handelns in seiner Vielfalt begriffen wurde. Eine solche Tendenz, die die Welt nicht als Welt der seienden, sondern der zu Wort gekommenen Dinge auffasst, zeigte sich schon bei F. Petrarca. Sie zog sich in der Forderung des Rhetorikunterrichts als Hinführung zum sachgemäßen und situationsangemessenen Ausdruck durch die gesamte Renaissancephilosophie. Kennzeichnend für diese war weiterhin das Studium der Literatur, besonders derjenigen der klassischen Antike, deren Wert L. Bruni in der Kenntnis und Aneignung der verschiedenen menschlichen Fähigkeiten sah (Studia humanitatis). Das Thema der durch die Sprache, d. h. durch Beispiele aus Literatur und Geschichte und Schulung im aus dem Mittelalter überlieferten Trivium (Artes liberales), zu vermittelnden »Menschlichkeit« (G. Veronese) wurde ergänzt durch die Frage nach der Würde des Menschen. Sie war Gegenstand zahlreicher Studien, die zu sehr uneinheitlichen Antworten kamen. Nach C. Salutati bestimmt die Jurisprudenz die menschlichen Handlungen als sinnvoll und menschenwürdig im Hinblick auf die Verwirklichung des Guten in der Gesellschaft. C. Landino betont die dem Menschen wesenseigene Gemeinschaftsorientierung und wertet das theoretische Denken gegenüber dem Einsatz im praktisch-politischen Bereich ab. Gerade in diesem Aufgabenfeld muss sich die menschliche Freiheit bewähren, die nach G. Pico della Mirandola die den Menschen als Mittelpunkt der Schöpfung auszeichnende Eigenschaft ist. Das Fehlen einer Reflexion über die Begründbarkeit menschlichen Handelns und über seine Fundierung durch Werte ließ neben dem humanistischen Bildungswissen ein Leistungswissen entstehen. Für N. Machiavelli kann der Mensch, erst recht der Politiker, nur dann erfolgreich handeln, wenn er sich den Zeitumständen anpasst und sich - je nach Gelegenheit - auch illegaler Mittel zu Einflussnahme und Machtausbau bedient. Dadurch etablierte sich die politische Praxis ähnlich wie bei F. Guicciardini als eine von der philosophischen Reflexion über Mensch, Gesellschaft und Recht unabhängige Tätigkeit. - Die durch das Interesse an der Gestaltung einer menschlichen Welt erklärbare Mehrdimensionalität der Wahrheitssuche erstreckte sich auch auf die Erkenntnis der Natur. Die inzwischen in der Originalsprache vorliegenden Werke Platons und Aristoteles' dienten dabei als Grundlage für eine Auseinandersetzung in den Akademien platonischer und aristotelischer Orientierung; in deren Verlauf wurde - neben der Frage der Interpretation und der Gültigkeit dieser Philosophien - die aristotelisch-logische Schlusslehre (Syllogistik) im Vergleich zur euklidisch-geometrischen Methode in ihrer Rolle für die Erklärung von Naturvorgängen diskutiert. Nachdem schon L. B. Alberti bei der Deutung des Kunstschönen auf die geometrische Methode zurückgegriffen hatte, zeichnete sich im 16. Jahrhundert, z. B. bei G. Cardano und F. Patrizi, mit einer Trennung der zu erforschenden Welt in ihrer Mannigfaltigkeit von ihrem göttlichen Ursprung eine Tendenz zu dieser Methode ab. Sie bildet mit der von I. Zabarella entwickelten logischen Analyse komplexer Sachverhalte und der von Leonardo da Vinci geforderten erfahrungsgeleiteten Naturforschung eine der Voraussetzungen für G. Galileis experimentelle und quantifizierende Naturwissenschaft. Gleichzeitig vollzog sich eine Abkehr von der aristotelischen Substanzontologie, welche die Welt als aus Substanzen bestehend ansah und die Beziehungen zwischen ihnen als akzidentell erklärte. So begriff M. Ficino unter Verwendung von neuplatonischen Gedanken und abweichend von den antiken Hierarchiemodellen die Welt als einen Zusammenhang. Wird dieser gemäß der Theorie des zeitweise in Italien lehrenden Nikolaus von Kues als ein unendlicher relational-funktionaler Zusammenhang oder wie bei Bruno als das Spiegelbild des unendlichen Gottes angesehen, so beruht seine Erkenntnis durch den endlichen menschlichen Geist weniger auf einer abbildenden als einer entwerfenden, synthetisierenden Fähigkeit; so T. Campanella. - Im 18. Jahrhundert reagierte G. Vico auf die Verbreitung des cartesianischen rationalistischen Methodenideals mit einer an die Studia humanitatis anknüpfenden, Wahres und Wahrscheinliches verbindenden Methodenlehre. Da der Mensch nur erkennen könne, was er selbst gemacht hat, wird für Vico die Geschichte, deren Gesetzmäßigkeiten er mit philosophischen und philologischen Mitteln konstruiert, zum eigentlichen Gegenstand menschlicher Erkenntnis. - Die Aufklärung hatte in Italien eine wesentlich geringere Wirkung als in Deutschland und Frankreich. Sie fand Anhänger z. B. in den Rechtstheoretikern C. Beccaria und G. D. Romagnosi. - In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Philosophie des Thomas von Aquino wieder aufgenommen; die darauf aufbauende italienische Neuscholastik hat bis heute großen Anteil an der Vermittlung scholastischen Gedankenguts. Um 1840 entwarf V. Gioberti eine ontologistische Philosophie der intuitiven Erkenntnis Gottes als der Ursache der geschaffenen Dinge und behauptete einen kulturellen und philosophischen Primat der italienischen Nation. Er distanzierte sich von der Theorie seines Zeitgenossen A. Rosmini-Serbati, wonach dem Menschen eine Anschauung des Seins innewohnt, die ihrerseits von Gott komme. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreiteten A. Vera, F. De Sanctis und B. Spaventa die Philosophie G. W. F. Hegels in Italien. Diese Strömung erreichte ihren Höhepunkt bei B. Croce und G. Gentile. Im Anschluss an De Sanctis' Theorie der Selbstständigkeit der Kunst erarbeitete Croce seine Theorie der vier voneinander unabhängigen Tätigkeiten des Geistes und beeinflusste so die italienischen Geisteswissenschaften bis in die jüngste Vergangenheit. Gentile ging von der Unableitbarkeit des sich aktuell vollziehenden Denkens aus (Aktualismus), sodass alle Denkobjekte nur als von dem jeweiligen Denkakt abhängig gedacht werden können. Diese idealistischen Philosophien traten in Auseinandersetzung mit Denkrichtungen positivistischer (Roberto Ardigò [* 1828, ✝ 1920]), marxistischer (A. Labriola; Antonio Banfi [* 1886, ✝ 1957], A. Gramsci), skeptizistischer (G. Rensi) und spiritualistischer (Francesco De Sarlo [* 1864, ✝ 1937], Bernardino Varisco [* 1850, ✝ 1933]) Orientierung. Ab 1930 fand, vermittelt durch Autoren wie E. Grassi, F. Lombardi und Luigi Pareyson (* 1918, ✝ 1991), die Existenzphilosophie in Italien Eingang. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg weiterentwickelt, z. B. durch Enzo Paci (* 1911) und N. Abbagnano, und verdrängte schließlich die jahrzehntelange Diskussion zwischen Realisten und Idealisten. M. F. Sciacca schuf einen christlichen Spiritualismus. Einen eigenständigen Ansatz entwickelte U. Eco mit seiner Kunst- und Kulturphilosophie (Semiotik). Die letzten drei Jahrzehnte sind v. a. gekennzeichnet durch die verspätet einsetzende Rezeption und die eigenständige Verarbeitung der Wissenschaftstheorie, der Phänomenologie, der Hermeneutik, der Psychoanalyse, des Marxismus sowie durch philosophiehistorische Bemühungen.
 
 
Bibliografia filosofica italiana, auf mehrere Bde. ber. (Florenz 1949 ff.);
 E. Garin: Cronache di filosofia italiana 1900-1960, 2 Bde. (Bari 1966);
 E. Garin: Storia della filosofia italiana, 3 Bde. (Turin 31966);
 
Gesch. der Philosophie in Text u. Darstellung, Bd. 3: Renaissance u. frühe Neuzeit, hg. v. S. Otto (1984);
 E. Grassi: Einf. in philosoph. Probleme des Humanismus (1986);
 H.-B. Gerl: Einf. in die Philosophie der Renaissance (1989);
 
Beitrr. zur Hermeneutik aus Italien, hg. v. F. Bianco (1993).

Universal-Lexikon. 2012.

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